Der Shotokan Tiger
Der Shotokan Tiger
Der sportliche Wettkampf, obgleich spektakulär und publikumswirksam, stellt nur eine kleine Facette des Karate dar, denn nicht der Wettkampf mit Erfolg und Niederlage steht im Vordergrund unserer Bemühungen, sondern das harte und beständige Training, die Auseinandersetzung mit den komplizierten und komplexen Bewegungsabläufen des Karate mit dem Ziel, Körper und Geist zu beherrschen und in Einklang miteinander zu bringen.
Immer wieder stellen die großen, alten Karatelehrer, und nicht nur die japanischen, den hohen erzieherischen Wert unserer Kampfkunst in den Mittelpunkt, wenn sie Karate unbedingt als „Do“ unterrichtet wissen wollen.
Der Begriff des „Do“ bedeutet soviel wie „Lebensweg“ oder
„Weg zur Lebensgestaltung“ und beinhaltet den Weg hin zur Selbstperfektion.
Dabei steht Karate in enger Beziehung zum Geist des Zen und ist beeinflusst vom Bushido, dem ritterlichen Ehrenkodex der Samurai.
Ziel aller Kampfkünste der Samurai war es, den jeweiligen Gegner blitzschnell und möglichst in einer Aktion kampfunfähig zu machen (Ikken Hissatsu). Diese Absicht liegt auch heute noch dem Karate zugrunde.
Zunächst einmal ist dies eine inhumane und destruktive Zielsetzung, welche unbedingt der Bindung an die sittliche Wertordnung einer reifen Persönlichkeit bedarf.
Somit hat der Karateunterricht auch die große Aufgabe und Herausforderung, den Schüler zur Erkenntnis und Einsicht seiner Verantwortung zu erziehen und ihn zu lehren, die eigenen Emotionen stets unter Kontrolle zu halten.
Stärke und Überlegenheit sollen sich in Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen äußern. Um aber Überheblichkeit und Hochmut zu vermeiden, muss der Karateschüler Respekt, Höflichkeit, Bescheidenheit, ja Demut lernen: Als Zeichen seiner unbedingten Achtung gegenüber den Mitmenschen und als Beweis seiner Selbstbeherrschung.
Das Tiger-Wappen, das uns allen bekannte Emblem des Shotokan-Karate, verdeutlicht sehr gut die Ziele und Absichten des Karate-Do. Dargestellt sehen wir einen Tiger, der sich in einem Kreis befindet. (Entwurf des japanischen Künstlers Hoan Kosugi, eines Freundes und Schülers von Funakoshi Gishin)
Den beiden Bildelementen, dem Tiger und dem Kreis, kommt eine besondere Bedeutung zu.
Der Tiger verkörpert dabei das Animalische, Wildheit, Mut, unbändige Kampfeslust, urwüchsige Kraft und absolute Entschlossenheit.
Wer siegreich kämpfen will, muss lernen, wie ein Tiger zu kämpfen.
Der Tiger aber ist nicht frei dargestellt, sondern in einem Kreis abgebildet und gebunden. Der Kreis wiederum steht stellvertretend als Zeichen der Vernunft und des menschlichen Geistes.
Wer siegreich und ehrenvoll kämpfen will, der muss seine Emotionen kontrollieren und bedarf der Besonnenheit.
Der Kreis (Geist) umschließt und bändigt so den Tiger.
Die Vernunft und der menschliche Geist herrschen über die animalischen Kräfte, beherrschen und kontrollieren sie, um sie sich notfalls nutzbar machen zu können.
Deutlicher als am Beispiel jenes kleinen Emblems lassen sich Wesen und Ziele des Karate-Do m.E. kaum veranschaulichen.
Erkennbar wird allerdings auch, wie sehr wahrer Karateunterricht gebunden bleibt an Geist und Atmosphäre des Dojo. Diese wiederum werden bestimmt und entscheidend geprägt vom Vorbild und Beispiel des unterrichtenden Karatelehrers.
Bernd Hinschberger
Karatelehrer